Im Frankfurter Kunstverein war 2010 eine Installation von Anny und Sibel Öztürk zu sehen, die wie die Essenz ihrer künstlerischen Arbeit wirkte. Einen großen Raum dominierten zwei Telegrafenmasten aus Holz, die von Kabeln gehalten und miteinander verbunden wurden. Gelegentlich leuchteten die Kabel blau auf. An den Wänden hingen Gemälde, die, zumeist im Farbton vergilbter Schwarz-Weiß-Fotos, Szenen eines Familienlebens in Istanbul zeigten. „Es ist die Geschichte von unserem Vater, die wir seit 40 Jahren immer wieder hören, seine vielen kleinen Geschichten. Wenn er die zusammenfügt, wird es sehr fantastisch“, erzählte Sibel Öztürk einer Reporterin von hr2-kultur. Dabei spielt es für die beiden Künstlerinnen keine Rolle, ob die Geschichten, die sie von ihren Eltern gehört haben, der Wahrheit entsprechen oder reine Phantasiegebilde sind. Die Bilder erzählen diese Geschichten, die beiden Telegrafenmasten symbolisieren die Möglichkeiten der Kommunikation zwischen Deutschland und der Türkei, die gelungenen und die gescheiterten Versuche.
Studium an der an der Städelschule in Frankfurt
Anny Öztürk ist 1970 in Istanbul geboren worden und hat ihre frühe Kindheit noch in der Türkei verlebt. Ihre Eltern, die beide als Journalisten arbeiteten, wollten nach England auswandern, bekamen aber kein Visum und entschieden sich für Deutschland. Die Mutter fand bei einer Elektronikfirma in Eberbach am südlichen Rand des Odenwalds Arbeit, der Vater ging zu einer türkischen Zeitung in Frankfurt. Sibel Öztürk wurde 1975 in Eberbach geboren. Die Schwestern haben beide an der Städelschule studiert, Anny von 1995 bis 2001 bei Christa Näher und Sibel von 1997 bis 2003 bei Ayse Erkmen. Seither arbeiten sie gemeinsam und leben in Frankfurt.
Obwohl sie vielseitige Künstlerinnen sind, die gern etwas Neues ausprobieren, ist das zentrale Thema ihrer Arbeit die Interaktion zwischen ihrer türkischen und ihrer deutschen Heimat. „Die Türkei ist für uns ein Ort der Sehnsucht“, schrieb Anny Öztürk 2011 im Katalog zur Ausstellung Heimatkunde im Jüdischen Museum Berlin. „Ein Ort voller neuartiger Abenteuer und herzlicher Wärme, die man von den Verwandten bekam, die man dort einmal im Jahr besuchte. Es ist auch ein Ort neuartiger Gerüche, Geräusche und Bilder. Vor allem erinnerlich ist uns das ganz andere Licht. Eben dieses Licht spielt eine wesentliche Rolle in den von uns daraus entwickelten Arbeiten.“
Versuche den "Ort der Sehnsucht" historisch zu fixieren
Den Ort der Sehnsucht versuchen die beiden Künstlerinnen historisch zu fixieren, indem sie Bilder und Räume aufrufen, die es schon lange nicht mehr gibt. So haben sie bei der Lichtkunst-Biennale in Bergkamen, die in Privatwohnungen stattfand, Schatten der Sprossengitterfenster ihrer Großeltern auf eine Wohnzimmerwand projiziert, an der Fotos der dort lebenden Familie hingen, und damit ihre Erinnerungen mit denen der Familie gemischt. Im Badischen Kunstverein in Karlsruhe hatten sie das Wohnzimmer ihrer verstorbenen Tante nachgebaut, das nach dem Tod der alten Dame in der Türkei, nach dortiger Sitte, sofort aufgelöst worden war.
In einer Gemeinschaftsausstellung des Hessischen Landesmuseums und der Galerie der Schader-Stiftung in Darmstadt erinnerten sie 2010 an das Haus ihrer Großmutter mit Bildern, Möbelstücken, der geliebten Topfpflanze des Großvaters und einer Installation, die die traditionellen orientalischen Fensterverkleidungen zitierte. Anny und Sibel Öztürk gehen mit diesen Erinnerungen künstlerisch um. Sie dokumentieren und befragen sie, aber sie lassen sich nicht von ihnen gefangen nehmen, sondern suchen daneben ständig neue Herausforderungen. So konzipieren und drehen sie auch Musikvideos mit aufwendigen Computeranimationen, u. a. für Jan Plewka, den Frontmann der deutschen Pop-Gruppe Selig.